In Deutschland leben etwa 3,8 Millionen Kinder mit einem psychisch- oder suchtkranken Elternteil. Diese Kinder haben ein vielfach höheres Risiko selbst eine psychische Erkrankung zu entwickeln, was enorme Auswirkungen auf ihre persönliche Entwicklung hat, aber auch negative wirtschaftliche Folgen haben kann. Denn die Folgekosten sind enorm. Prävention kann dem entgegenwirken.
Die Situation von Kindern psychisch kranker Elternteile
Vor mir sitzt ein schmächtiger blasser Junge. Jannik, 9 Jahre alt. Er lebt allein mit seinem alkoholkranken Vater, der zudem an einer schweren Depression leidet. Jannik besucht jeden Tag die OGS, in der ich arbeite. Und jeden Tag ist er einer der Kinder, die die OGS am Nachmittag als Letztes verlassen. Obwohl sein Vater zu Hause ist, zurzeit nicht arbeitet und beide in der Häuserreihe direkt gegenüber der Schule wohnen. „Und, was machst du heute noch, Jannik?“, frage ich ihn. „Fortnite spielen“, antwortet er.„Magst du nicht rausgehen?“, frage ich. „Das Wetter ist so schön und wir haben doch direkt einen Spielplatz hier.“„Nö“, antwortetet er. „Dann wäre Papa ja auch ganz allein…“.
Jannik ist nur ein Kind von 3,8 Millionen. Fast jedes 5. Kind in Deutschland lebt mit einem psychisch- oder suchtkranken Elternteil. Diese Kinder haben laut einer Studie des Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf ein drei – bis siebenfach höheres Risiko selbst an einer psychischen Störung zu erkranken. Andere Studien sprechen von einer zwei- bis fünfachen Prävalenz.Trotzdem gelten diese Kinder noch immer als die „vergessenen Angehörigen“, obwohl sie vielen Herausforderungen und Belastungen ausgesetzt sind.

Da wäre zum einen, dass diese Kinder oft nicht wissen, was genau mit Mama oder Papa los ist. Psychoedukation findet nicht statt. Kinder haben jedoch „feine Antennen“. Sie spüren, dass etwas nicht stimmt, oder erleben es unmittelbar, wenn die Mutter oder der Vater morgens nicht aufsteht. Oft beziehen sie es auf sich. Liegt es an mir? Habe ich etwas falsch gemacht? Bin ich es nicht wert? Das Entwickeln von Schulgefühlen bleibt hierbei nicht aus. Ebenso das Übernehmen von Verantwortung. In vielen Familien ist eine Parentifizierung zu beobachten, bedeutet, dass eine Rollenumkehr stattfindet. Da kocht das Kind das Mittagessen, übernimmt den Einkauf oder versucht die Geschwister „in Schach“ zu halten. Eigene Bedürfnisse werden zurückgestellt, und viel zu früh fungieren diese Kinder als kleine Erwachsene, tragen die große Last, dass der Alltag laufen muss.
Isolation und "Familiengeheimnis"
Häufig findet eine Isolation statt. Über die Verhältnisse zu Hause wird nicht gesprochen, das „Familiengeheimnis“ wird gewahrt, und da es den Eltern aufgrund ihrer Erkrankung oft schwer fällt, soziale Kontakte zu pflegen oder einer Arbeit nachzugehen, haben die Kinder wenig Chancen in einem guten sozialen Netzwerk aufgefangen zu werden. Bei Familien mit Migrationshintergrund kann es sein, dass Integration noch weniger vorhanden ist. Man kann sich vorstellen, wie dies für Familien und Kindern mit Fluchterfahrung sein muss und welche psychischen Belastungen sie aufgrund der Erfahrungen, die sie machen mussten, ausgesetzt sind.
Die Folgen für Kinder psychisch kranker Eltern können also enorm sein. Besteht nicht nur genetisch das Risiko eine psychische Erkrankung zu entwickeln, können die Lebensumstände negative Auswirkungen auf die kindliche Entwicklung haben. Auch Kinder, die mit einem alleinerziehenden Elternteil aufwachsen, sind einem höheren Risiko ausgesetzt. Hinzu kommen Auseinandersetzungen unter den Elternteilen, das Fehlen von Zusammenhalt und Harmonie in der Familie, sowie leider auch körperlicher oder seelischer Missbrauch.
Aufgrund der vielfältigen Belastungen und der fehlenden Unterstützungen, kann es auch zu Schwierigkeiten in der Schule kommen. Schlechte Noten, aber auch Stigmatisierung und Mobbing sind keine Einzelfälle.
Fehlende Strukturen und Unterstützung
Wenn die Auswirkungen von Kindern psychisch kranker Eltern dermaßen gravierend sind, warum gibt es dann so wenig Hilfsangebote? Wie ich bereits erwähnte, gelten diese Kinder als „vergessene kleine Angehörige“. Sabine Wagenblass und Christian Spatscheck beschreiben in ihrem Buch „Kinder psychisch erkrankter Eltern“ , dass man „…Ende der 1990er-Jahre der Blick auf die (minderjährigen) Kinder psychisch kranker Eltern richtete und diese als ‚die kleinen vergessenen Angehörigen‘ entdeckt wurden.“ 1996 folgte dann der erste bundesweite Kongress „Hilfen für Kinder psychisch Kranker“. (Wagenblass & Spatscheck, 2023). Das ist gerade mal 30 Jahre her.
Familie ist ein System. Die Angehörigen bedingen sich in ihren Handlungen und Äußerungen gegenseitig. Niemand steht für sich allein da.
Doch nach wie vor wird sich in Therapie und Behandlungen in erster Linie auf das erkrankte Familienmitglied konzentriert. Zwar finden in therapeutischen Settings auch hin und wieder Gespräche mit Partner*innen statt, aber selten werden Kinder mit einbezogen, geschweige denn, dass es ein flächendeckendes Angebot für Kinder psychisch kranker Eltern gibt. Sie stehen nicht direkt im Fokus von Hilfsmaßnahmen oder politischen Initiativen.

Ein großer Punkt ist, wie bei fast allem, was seit einigen Jahren im Argen liegt, der Kostenfaktor. Es fehlen die finanziellen Mittel, um landesweit Präventionsprogramme zu etablieren und zu verstetigen. Viele Hilfsangebote finden nur regional statt, Träger kämpfen kontinuierlich um Regelfinanzierungen, tatsächlich fallen Finanzierungen aus Stiftungen plötzlich weg und es ist unklar, wie Projekte weiterhin finanziert werden können.
Da es sich um präventive Maßnahmen handelt, argumentieren viele, dass eine Finanzierung über die GKV stattfinden müsste. Doch häufig müssen sich Träger mit den Jugendämtern in Verhandlungen begeben. Das hier soziale Leistungen erst Anfang des Jahres stark gekürzt wurden, ist bekannt.
Hinzu kommt, dass Finanzierungen der Jugendämter über „Hilfen zur Erziehung“ laufen. Dies beinhaltet in der Regel kein niederschwelliges Antragsverfahren, was viele Eltern abschreckt, aus Angst vor Stigmatisierung und der Sorge, man könne ihnen die Kinder wegnehmen. So bleibt die Erkrankung weiterhin im Verborgenen und die Kinder haben niemanden, an dem sie sich wenden können
Es gibt zwar einige Programme für psychische Gesundheit, doch richten sich diese in der Regel an Erwachsene und nicht an die speziellen Bedürfnisse von Kindern psychisch kranker Elternteile. Es fehlt an spezialisierten Fachkräften, die sich mit den Belangen dieser Kinder auskennen und ihnen gezielt Unterstützung bieten können.
Die langfristigen Folgekosten fehlender Prävention bei Kindern psychisch kranker Eltern
Dass die finanziellen Mittel für Präventionsmaßnahmen nicht da sind, kann ich ehrlich gesagt nicht nachvollziehen. Schaut man sich die Folgekosten an, übersteigen diese ein Vielfaches von dem, was in Projekte investiert werden müsste. Ich sag‘ mal ganz platt: Das Geld wird sowieso ausgegeben, sogar doppelt und dreifach.
In ihrem Faktenblatt aus dem April 2024 hat die DGPPN Basisdaten zu psychischen Erkrankungen in Deutschland dargelegt. Demnach sind die Kosten im Gesundheitswesen in den letzten Jahren enorm gestiegen, ebenso die Krankheitstage aufgrund psychischer Erkrankungen. Auch die Frühverrentung wegen psychischer Erkrankungen ist mit einer Zahl von 42 % nicht zu unterschätzen. Was das für volkswirtschaftliche Folgen hat, kann man sich denken: wochenlange Behandlungen, Fachkräftemangel, Bürgergeld etc.
Auch die Kosten, die unter Umständen verursacht werden, wenn nach wie vor an Präventionsmaßnahmen für Kinder gespart wird, sind nicht zu unterschätzen. Ein Klinikaufenthalt in einer Kinder- und Jugendpsychiatrie beläuft sich in der Regel auf 300 – 500 Euro pro Tag. Im Schnitt verbleiben die Kinder und Jugendlichen bis zu 3 Monaten in einer Klinik.
Oft kommen Familien auch nicht drumherum eine SPFH (Sozialpädagogische Familienhilfe) zu beantragen. Auch die stationäre Unterbringung in einer Wohngruppe mit Kosten von 5.500 Euro im Monat kann nicht ausgeschlossen werden.
Wenn man sich nun vor Augen führt, dass knapp 4 Millionen Kinder in Deutschland mit einem psychisch kranken Elternteil lebt, werden einem die Dimensionen bewusst, auch wenn das natürlich nicht bedeutet, dass jedes Kind selbst erkrankt oder außerhalb der Familie untergebracht werden muss.
Jedoch ist es nicht abzustreiten, dass Gelder eingespart werden könnten, würde man in Kinder und Jugendliche investieren. Denn auch wenn sie nicht während der Adoszelenz erkranken, ist nicht abzusehen, welche psychischen Erkrankungen sich im Erwachsenalter bemerkbar machen, die zu Arbeitsausfällen oder sogar Frühverrentungen führen können.
Prävention als Investition in die Zukunft

Es gibt bereits vielversprechende Programme und Initiativen zur Unterstützung von Kindern psychisch kranker Elternteile, so zum Beispiel das Kips-Projekt des Landes NRW oder FitKids, was sich speziell an Kinder suchtkranker Eltern richtet. Hier wird Psychoedukation betrieben, die Resilienz der Kinder wird gestärkt und die Kinder dürfen einfach mal „Kind sein“. In Vorpommern-Greifswald hat der Landkreis gemeinsam mit regionalen Trägern der Suchthilfe eine Fortbildung entwickelt, die sich speziell an Fachkräften aus Kita, Schulen, Jugendzentren usw. richtet.
Dennoch zeigt sich in der Praxis immer wieder, dass dies nur ein Tropfen auf dem heißen Stein ist. Die Ressourcen reichen oft nicht aus, um eine flächendeckene Untersützung bieten zu können, obwohl der Bedarf die letzten Jahre, angefeuert durch die Corona-Pandemie, gestiegen ist.
Ein klares Beispiel dafür ist die Schulsozialarbeit. Obwohl sie eine zentrale Rolle zur Prävention und Beratung einnimmt, ist sie oft nicht ausreichend besetzt. An der Schule meiner Tochter zum Beispiel ist die Schulsozialarbeiterin nur an zwei Tagen in der Woche vor Ort – und das, obwohl sie zwei Schulen betreuen muss! Wie soll auf diese Weise qualitativ gute Prävention und Beratung stattfinden? Wie möchte man auf diese Weise gewährleisten, dass Kindern wie Jannik effektiv geholfen werden kann?
Das ist ein Systemproblem, dass es zu lösen gilt!
Wir sollten uns dringend die Frage stellen: Warum sind diese Maßnahmen nur punktuell und nicht ausreichend vorhanden? Immerhin steckt hier eine gewaltige Chance für uns als Gesellschaft drin! Prävention und frühzeitige Unterstützung dieser Kinder sind notwendig, nicht nur wirtschaftlich, sondern auch aus Sicht der Menschlichkeit und Wertschätzung. Und: Können wir es uns wirklich leisten, hier nicht zu investieren? Auch in der aktuellen politischen Diskussion über soziale Gerechtigkeit und das Gefühl des „Abgehängtseins“ spielt die Frage eine Rolle: Was passiert mit Kindern, die früh erfahren, dass sie auf sich allein gestellt sind? Dass sie nicht wichtig genug sind, um ihnen zu helfen?
Im Januar 2025 hat der Bundestag den interfraktionellen Antrag „Prävention stärken – Kinder mit psychisch oder suchtkranken Eltern unterstützen“ beschlossen. Das Ziel: Kinder, die in Familien mit psychischen Erkrankungen oder Suchterkrankungen aufwachsen, sollen besser unterstützt werden. Dazu sollen kommunale Gesamtkonzepte entwickelt werden, die verschiedene Hilfsangebote vernetzen und qualitätsgesichert sind. Außerdem ist geplant, das Präventionsgesetz weiterzuentwickeln, um die seelische Gesundheit von Kindern gezielt zu fördern.
Es wird Zeit, dass wir den „kleinen vergessenen Angehörigen“ zeigen: Ihr seid uns nicht egal und ihr werdet gebraucht. Nur so können wir sicherstellen, dass Kinder wie Jannik nicht in die gleiche psychische Not geraten wie sein Vater, sondern in einer gesunden und stabilen Umgebung aufwachsen können. Und das ist nicht nur eine Frage der sozialen Gerechtigkeit, sondern auch eine der wirtschaftlichen Vernunft.
Landesärztekammer Hessen (2021, November). Kinder psychisch kranker Eltern. Ausbau der Versorgung einer oft vergessenen Risikogruppe.https://www.laekh.de/heftarchiv/ausgabe/artikel/2021/11-2021-november-2021/kinder-psychisch-kranker-eltern
Griepenstroh, J. & Schmuhl, M. (2010): Zur Lebenssituation von Kindern psychisch erkrankter Eltern. https://www.uni-bielefeld.de/fakultaeten/erziehungswissenschaft/zpi/projekte/kanu/griepenstroh_schmuhl_lebenssituation.pdf
Wagenblass, S. & Spatscheck, C. (Psychiatrie Verlag 2023), Kinder psychisch kranker Eltern, 1. Auflage, Köln